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Ruhepausen werden zur Qual: Im Interview mit Carmen von Nasse

Immer mehr Menschen leiden an Arbeitssucht. Warum Ruhepausen zur Qual werden, erklärt uns Carmen von Nasse im Interview.

Veröffentlicht am 12. Februar 2024

Arbeitssucht - HNA Interview

Arbeitssucht: Ein größer werdendes Problem unserer Gesellschaft

Arbeitssucht, auch als Workaholismus bekannt, ist ein ernsthaftes und zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft. Immer mehr Menschen finden sich in einem endlosen Zyklus von Überarbeitung und Stress gefangen, der ihr persönliches Leben und ihre Gesundheit negativ beeinflusst. Diese Besessenheit kann zu schwerwiegenden physischen und psychischen Problemen führen und auch die zwischenmenschlichen Beziehungen belasten. In unserer schnelllebigen Welt, in der Erfolg oft mit harter Arbeit gleichgesetzt wird, ist es wichtig, die Grenzen zwischen beruflichem Engagement und Selbstfürsorge zu erkennen und zu respektieren. Unsere Chefärztin der Habichtswald Privat-Klinik, Carmen von Nasse, erklärt im Montagsinterview der HNA, wieso immer mehr Patienten von Arbeitssucht betroffen sind, wie sich diese äußert und wie Workaholics zu einer gesunden Work-Life-Balance zurückfinden.

Kassel - Ein Phänomen, das in unserer Gesellschaft mehr an Bedeutung gewinnt, ist die Arbeitssucht. Menschen, die darunter leiden, verspüren einen übermäßigen Drang, ständig zu arbeiten und können sich nur schwer von ihrer beruflichen Tätigkeit lösen. Dieses zwanghafte Verhalten kann die körperliche und seelische Gesundheit beeinträchtigen. Auch an der Habichtswald-Privat-Klinik, einer Akutklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, steht die Arbeitssucht im Fokus. Wir haben mit Chefärztin Carmen von Nasse gesprochen.

Frau von Nasse, seit vergangenem Jahr ist Arbeitssucht ein Behandlungsschwerpunkt in Ihrer Klinik. Nimmt die Zahl der Betroffenen also zu?

Ja. Wir sehen vermehrt Patienten in der Klinik, die krank geworden sind durch die Arbeit. Wir haben uns dann eingehender damit beschäftigt. So können wir besser mit dem Krankheitsbild umgehen und den Menschen auch besser helfen.

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass zehn Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland zwanghaft arbeiten und zur Arbeitssucht neigen. Das sind extrem viele.

Ich glaube, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist. Und das Problem hat sich in der Corona-Zeit noch einmal verstärkt.

Warum?

Gerade der Mittelstand war in der Pandemie viel Druck und Stress ausgesetzt. Es ging, beziehungsweise geht da auch um Existenzen. Gerade auch Menschen aus dem Gesundheitsbereich sind betroffen. Da haben sich viele völlig verausgabt. Und wir sehen Arbeitssüchtige vor allem unter Managern und bei Menschen in Führungspositionen. Das hat jedoch nichts mit Corona zu tun, sondern eher mit der gesamten wirtschaftlichen Situation und dem Druck dahinter.

Durch die Digitalisierung sind viele Menschen rund um die Uhr erreichbar. Hat auch das Einfluss auf eine mögliche Arbeitssucht?

Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor. Unsere Stresshormone gehen durch die ständige Erreichbarkeit nach oben. Wenn ich jeden Tag etwa 50 Mails beantworten muss und dabei auch noch sehr gewissenhaft bin, erschöpft mich das enorm. Gefährdet für Arbeitssucht sind vor allem Menschen, die sehr perfektionistisch und wettbewerbsorientiert sind und ein hohes Kontrollbedürfnis haben. Über die Arbeit holen sie sich Bestätigung und Anerkennung. So funktioniert ja auch unsere Gesellschaft: Wenn wir etwas leisten, sind wir wer.

Das heißt, Arbeitssucht ist eher abhängig von der Persönlichkeit als von der investierten Arbeitszeit?

Natürlich spielt auch der zeitliche Faktor eine Rolle. Jemand, der nach einer 40-Stunden-Woche pünktlich nach Hause geht, läuft eher nicht Gefahr, arbeitssüchtig zu werden. Aber wenn es so an die 60 bis 80 Stunden Arbeit pro Woche geht, ist das ein Warnsignal. Dennoch muss nicht jeder, der sehr viel arbeitet, arbeitssüchtig werden. Wenn eine Person eine gute Reflexionsfähigkeit hat und weiß, was sie tut, und das auch ausgleichen kann mit Familie, Freunden und Hobbys, kann das auch gut funktionieren. Die Übergänge zwischen normal und gefährdet sind fließend.

Was sind Warnzeichen für eine Arbeitssucht?

Die Störung der Konzentration und Herz-Kreislauf-Probleme gehören ebenso wie somatische Kopf- und Magenschmerzen zu den frühen Anzeichen. Hinzu kommen gereiztes Verhalten und eine Infektanfälligkeit. Arbeitssucht ist eine inoffizielle Bezeichnung für eine nicht stoffgebundene Suchterkrankung, eingestuft als Impulskontrollstörung. Das Verhalten von Arbeitssüchtigen ist exzessiv und zwanghaft, eine gesunde Balance zwischen Arbeit und Freizeit nicht mehr möglich.

Wird das Verhalten dann immer zwanghafter?

Ja, der Verlauf der Krankheit ist fortschreitend und unterteilt sich in mehrere Phasen. In der Anfangsphase arbeitet der Workaholic in der Freizeit. In der kritischen Phase verschlimmern sich die eben genannten Symptome noch. Auch Ruhepausen, Urlaube und Freizeit werden für die Betroffenen immer mehr zur Qual. In der chronischen Phase gönnen sich Betroffene keine Freizeit mehr, schlafen wenig und greifen vermehrt zu Leistungsdrogen. Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Panikerkrankungen treten häufig auf.

Die Menschen kommen also nicht nur mit der Diagnose Arbeitssucht zu Ihnen. Da gibt es dann noch viel mehr Probleme.

Genau. Wir sehen viele Patienten mit Erkrankungen aus dem psychosomatischen Formkreis. Aber es kommt niemand mit der Diagnose Arbeitssucht zu uns. Die gibt es in der Form gar nicht. Was auch oft noch dazukommt - das hängt aber vom Schweregrad der Arbeitssucht ab - sind körperliche Erkrankungen: Herzinfarkte, Bluthochdruck und Magen-Darm-Probleme wie Reizdarm oder Schlaganfälle.

Ist die Behandlung von Arbeitssucht dann überhaupt eine Kassenleistung?

Die Kostenzusage für den stationären Aufenthalt ergibt sich aus der Diagnose der Depression, eines Burn-outs oder einer chronischen Erkrankung mit psychischen und körperlichen Symptomen. Die Arbeitssucht ist also keine Kassenleistung. Die Erkrankung, die sich daraus ergibt, schon. Das ist anders etwa bei einer Alkoholsucht. Das ist eine stoffgebundene Sucht, die auch als solche anerkannt ist. Die Anerkennung der Arbeitssucht als nicht-stoffgebundene Suchterkrankung würde sehr viel in der Behandlung erleichtern, weil wir früher reagieren könnten. Eben nicht erst, wenn die Menschen davon richtig krank geworden sind. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

Wie behandeln Sie Arbeitssucht und die Begleiterkrankungen?

Begeben sich Arbeitssüchtige frühzeitig in Behandlung, steigt die Chance, Folgen wie Depressionen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen. In der Klinik nehmen wir die körperliche Seite in den Blick und stabilisieren die Patienten. Gleichzeitig arbeiten wir mit Einzeltherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, aber auch mit Gruppen- und Familientherapie. Wir versuchen, mit Patienten ein Krankheitsverständnis zu erarbeiten und aufzuzeigen, dass es noch etwas anderes gibt als Arbeit. Wir bringen die Menschen dafür in Kontakt mit Sport. Sie nehmen an Achtsamkeitstrainings wie Stressmanagement oder Waldbaden teil. Die Patienten sollen nicht wieder in ihre alten Muster verfallen, dafür braucht es aber eine große Veränderungsmotivation. Dazu ein aufmerksames Umfeld sowie bei den Betroffenen selbst eine Reflexion. Es gibt extrem viele, die rückfällig werden.

Wie viele genau?

Die Rückfallquote liegt bei mehr als 60 Prozent. Denn anders als bei einer Alkoholsucht, bei der man anschließend Alkohol meiden kann, geraten die Betroffenen ja immer wieder in den Kontakt mit der Arbeit. Sie sind dem Suchtmittel kontinuierlich ausgesetzt.

Was kann ich selbst also tun, um gar nicht erst arbeitssüchtig zu werden?

Das ist schwierig. Denn die Betroffenen haben meist gar nicht die Bereitschaft, zu sehen, dass es da ein Problem geben könnte. Meist fällt es im Umfeld zuerst auf: Arbeitskollegen, der Familie oder Freunden. Wenn das Thema nicht so sehr tabuisiert wäre - aktuell findet das ja fast jeder gut, wenn man viel arbeitet - dann hätte man auch die Chance, Arbeitssucht-Gefährdete früher zu erreichen. Wir sehen die Menschen in der Klinik erst, wenn sie extrem krank sind. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. Wichtig ist, sich immer wieder Erholungsphasen zu gönnen, und nicht nur die Arbeit in den Lebensmittelpunkt zu stellen. Sport, das Pflegen von Freundschaften oder ein anderes Hobby können helfen.


Quelle: HNA, Anna Weyh, Montagsinterview

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